Loslassen? ja, aber wie

es gehört inzwischen zum Standard-Wissen, dass wir loslassen müssen, um uns zu befreien. Die Buchhandlungen sind voll von Büchern, in denen es um das Loslassen geht. Ich stimme der Aussage zu, dass loslassen wichtig ist, um sich von allem, was einengend ist zu befreien. Ich vermisse in der Ratgeberliteratur allerdings eine ernsthafte Auseinandersetzung damit, wie das eigentlich gehen soll. Denn auch wenn viele Tipps zum Loslassen zu finden sind, habe ich noch nichts darüber lesen können, was Loslassen eigentlich ist.

Ich möchte Abhilfe schaffen: Als erstes, denke ich, ist es notwendig zu verstehen, dass dem, was losgelassen werden soll, ein Festhalten vorausgeht. Was ist Loslassen konkret und wie kommt es zum Festhalten?
Festhalten kann bedeuten…

  • an Glaubenssätzen und Überzeugungen festzuhalten
  • an Gefühlen festzuhalten, die vertraut sind, womöglich auch an leidvollen
  • an Anspannungen im Körper festzuhalten

Leben und sich dem Leben anzuvertrauen, heißt im Fluss zu sein mit dem, was ist, beweglich und flexibel auf das zu reagieren was geschieht und sich dem anpassen zu können, was das Leben uns abverlangt. Leben heißt, den Mut zu haben unsicher zu sein, spontan und anpassungsfähig und sich darin ausreichend sicher zu fühlen.

Wenn in diesen Fluss des Lebens erschreckende und erschütternde Erfahrungen einschlagen kann es sein, dass der Fluss, in dem wir uns natürlicherweise befinden, ins Stocken kommt. Sind wir traumatischen Erlebnissen ausgesetzt, gehen diese mit Angst, sogar Todes- und Vernichtungsangst einher, gegen die wir uns nicht ausreichend wehren oder vor ihnen weglaufen können. Dann bleibt nur noch die Erstarrung als letzte Selbstrettungsmöglichkeit. Diese traumabedingte Erstarrung, die unserem Selbstschutz dient, findet auf allen Bewusstheitsebenen statt: dem Denken, dem Körper und dem Fühlen.

Sie führt zu…

  • kognitiven Überzeugungen, die sich durch die Traumaerfahrung aufdrängen (z.B. „Ich bin schlecht!“)
  • Zu körperlicher Anspannung (z.B. ein Anspannen des Brustbeins, der Schultern, des Beckens)
  • Zu einer grundlegenden Angst, die alle anderen Gefühle beeinflusst 

Loslassen bedeutet also, dass wir uns von diesen traumabedingten Überlebensmustern befreien, an denen wir festhalten, weil sie uns in einer scheinbar unaushaltbaren Belastungssituation – dem Trauma – gerettet haben.

Loslassen ist eine große Sache! Denn es bedeutet von dem loszulassen, von dem wir erlebt haben, dass es uns das Leben gerettet hat. Bevor wir das tun, müssen wir sehr überzeugt sein, dass das was kommt, wenn wir loslassen, besser ist als das, was wir mit dem Festhalten erreichen.

Im Grunde ist es so, dass wir uns nicht vornehmen können etwas loszulassen, das uns überlebensnotwendig scheint. Natürlich können wir Dinge oder Gewohnheiten loslassen, die uns nicht so sehr tangieren, die mit unserem Überleben nichts zu tun haben, aber dieses Loslassen führt nicht zu einer bedeutsamen Befreiung, sondern bestenfalls zu einer angenehmen Erleichterung – was auch schön ist, aber eben nicht relevant.

Wenn es also um das Loslassen relevanter, einengender Muster geht, können wir uns das Loslassen nicht vornehmen und einfach machen. Loslassen ist viel eher eine Folge intensiver Vorbereitung. Loslassen folgt dem natürlichen, inneren Bedürfnis nach Entfaltung, sobald die Bedingungen dazu günstig sind. Wir werden nicht länger an einengenden Mustern festhalten, wenn wir spüren und fühlen, dass wir sie nicht mehr brauchen.

Was muss also geschehen, damit wir dieses Festhalten an einengenden Mustern nicht mehr brauchen? In einem Heilungsprozess müssen wir schrittweise die Fähigkeit zu liebevoller Selbstbeachtung und zu Selbstliebe entwickeln. Je nachdem in welchem Maße das gelingt, werden wir uns zunehmend sicherer fühlen, werden erfahren, dass die verneinenden Angriffe, die wir in der traumatisierenden Ursprungssituation erlebt haben, vorüber sind und dass wir den Selbstschutz durch z.B. Anspannung der Muskulatur nicht mehr benötigen. Dann wird das Loslassen von allein seinen Weg finden.

Was geschieht, wenn loslassen gelingt? Wir werden im Körper gelöster werden und werden den zurückgehaltenen Gefühlen erlauben aufzutauchen. Wir werden wieder mehr und mehr in den Fluss des Lebens kommen. Wir werden uns unsicher fühlen, weil wir spüren, dass wir keine Kontrolle darüber haben, was kommen wird, aber sicher genug, um uns dieser Unsicherheit auszusetzen. Wir werden ein bunteres Gefühlsleben zurückgewinnen, wir werden berührbar sein. In den Körper wird ein Strömen und Vibrieren zurückkehren, welches das Leben ist.

Loslassen heißt, das Festhalten an traumabedingten Überlebensmustern loszulassen. Um loslassen zu können müssen wir wahrnehmen, wo in unserem Körper Anspannung ist und uns liebevoll um sie kümmern: sie genau wahrnehmen, uns ihr liebevoll zuwenden, sie sich schrittweise auflösen lassen, um dann die Gefühle, die sich darin verbergen, zulassen zu können. Wenn wir das in einer Haltung liebevoller Selbstbeachtung tun, wird sich traumabedingtes Festhalten an Anspannung, Druck, Taubheitsgefühlen und das Vermeiden von Gefühlen schrittweise auflösen. 

Wenn Loslassen geschieht, kehrt eine in Vergessenheit geratene Lebendigkeit, aus der wir ursprünglich bestehen, wieder zurück. Dieses Loslassen kann eine eruptive, gewaltsam erscheinende, ruckartige oder eine ganz sanfte, langsame Befreiung sein. Das entscheidende dabei ist die Bereitschaft, sich selbst liebevoll in diesem Prozess zu begleiten und sich sich selbst gegenüber liebevoll zuzuwenden und zugewandt zu bleiben. Nur so kann ein Gefühl von Sicherheit entstehen und eine Überzeugung, dass der „Krieg“, den wir in der traumatischen Situation erlebt haben, vorüber ist. 

Wenn Sie sich auf diesem Weg der Befreiung unterstützen lassen möchten, dann kommen Sie gerne in meine Seminare oder in die Ausbildungen!

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