Die Würde verlieren
in der Traumasituation erleben wir uns einem bedrohlichen, vollkommen überfordernden Angriff schutzlos ausgeliefert. Wir können uns nicht mehr wehren oder fliehen. Wir sind ohnmächtig.
Wir entwickeln Selbstrettungsstrategien. Zum Glück ist uns das möglich, aber das Erleben, dem Schlimmen ohnmächtig ausgeliefert zu sein, bleibt bestehen.
Selbstrettungsstrategien können sein, dass wir aufbegehren, trotzig sind, uns verschließen und verweigern oder dass wir uns anpassen, versuchen leise und unsichtbar zu sein, um die Aggression derjenigen, denen wir ausgeliefert sind, zu mildern.
Zwar können wir uns weder verteidigen noch fliehen, aber der Impuls, uns zur Wehr zu setzen, bleibt im Hintergrund vorhanden. Wenn es auch nur noch einen winzigen Rest an Aufbegehren in uns gibt – ein gewisses Maß an Widerstand gegen das Unrecht und das Schlimme, das uns angetan wird, bleibt erhalten.
Das ist gut so! In diesem letzten Rest an Widerstand erhalten wir uns unser intuitives Wissen darum, das es falsch ist, ungerecht, unerhört, uns zu demütigen, abzuwerten, zu missachten, zu misshandeln oder zu missbrauchen.
Der Kern dieses Widerstands gegen das Unrecht ist Hass. Gesunder Hass ist das Erleben, d.h. sowohl das Gefühl als auch das Wissen, dass das, was da ist, so nicht sein darf. Hass ist nicht automatisch, wie es oft missverstanden wird, verbunden mit Gewalt. Wir können aufgrund von Hass gewalttätig werden. Wir können aber auch gewaltlose, respektvolle Wege finden, dem, was wir nicht wollen, Einhalt zu gebieten. Der gewaltlose Widerstand von Mahatma Ghandi ist ein Beispiel dafür. Die Grundlage seines Widerstands war Hass im o.g. Sinne: er wollte sein Land von der Unterdrückung durch die Kolonialmacht befreien. Er wollte etwas, was für ihn inakzeptabel war, ändern. Kompromisslos.
Gesunder Hass ist notwendig, um Veränderungen herbeizuführen.Wir haben die Wahl, ob wir Gewalt oder Gewaltlosigkeit dazu wählen. Wenn wir allerdings keine Möglichkeit finden, die Veränderung zu erreichen, die wir so unbedingt erreichen wollen, dann kann es passieren, wie es im Falle von traumatischen Erlebnissen meistens der Fall ist, dass wir den Hass gegen uns selbst richten.
Selbsthass ist eine Folge der Ohnmacht gegenüber unserem Veränderungswunsch. Wir wollen, dass die anderen aufhören uns zu quälen, zu schlagen oder verachtend auf uns herabzuschauen. In einer traumatisierenden Situation (und auch sonst meistens) können wir die anderen aber nicht dazu bringen, ihr Verhalten zu ändern.
Durch unsere Abhängigkeit von den anderen, z.B. den Eltern, ist es notwendig, eine Lösung zu finden, die es uns ermöglicht, weiterhin die Versorgung zu erhalten, die wir von ihnen brauchen. Es bleibt uns im Falle von Trauma nichts anderes übrig, als die Situation zu entlasten, indem wir den Hass auf uns selbst richten. Wir beginnen uns abzulehnen, für falsch, schlecht, unbedeutend und für verachtenswert zu halten. Mit dieser Wendung der Aggression gegen uns selbst schaffen wir zunächst eine Entlastung in einer unaushaltbaren Situation, aber längerfristig nehmen wir Schaden davon.
Selbstabwertungen zum Beispiel sind eine Folge von Selbsthass, der zu selbstverletzendem Verhalten führen kann. aus Selbsthass entstehen Selbstkritik, schädliche Lebensweisen, Alkohol- und Drogenkonsum, Anspruchsverhalten sich selbst gegenüber uvam.
Die Würde wiederfinden
Selbsthass ist eine Folge davon, dass wir uns in unserer Würde verletztfühlen. Wir schauen uns nicht mehr in die Augen, bzw. nehmen uns nicht mehr wahr mit einer natürlichen Achtung und einer Freude an uns selbst. Wir würdigen es nicht mehr, die zu sein, die wir sind.
Wie können wir zurückfinden zu unserer Würde? Wie können wir uns unseres Wertes wieder bewusst werden?
In dem Maße wir uns selbst mit Wertschätzung, Respekt und Liebe beachten, kann ein Erleben von Wert-sein wieder in uns entstehen. Wir gewinnen unsere Würde zurück, indem wir uns als die, die wir sind, wertschätzen und liebevoll beachten. Indem wir einfühlsam verstehen, was wir fühlen, aus welcher Not heraus wir so ablehnend über uns denken und uns selbstverletzend verhalten.
In dem Maße wir uns selbst bejahen, erfahren wir uns als Wert und als wertvoll.
Das ist Würde: das Bewusstsein, Wert zu sein! Schenken wir uns liebevolle Beachtung, kann unsere Würde wieder in uns erwachen. Wir können uns aufrichten, den Kopf heben, mit klarem Blick zu den anderen schauen, ohne uns über sie erheben zu müssen, um uns besser zu fühlen. Wir können einfach sein, wer wir sind: respektwürdig, beachtenswert, liebenswert.