Liebe geben zu können ist sogar oft noch beglückender und erfüllender. Lieben heißt, sich für etwas oder für jemanden zu interessieren, sich an jemandem zu erfreuen. Es bedeutet, sich einer anderen Person offen und frei von Bewertungen, interessiert zuzuwenden. Wie schön kann das Leben sein, wenn wir das erleben! Wie sehr sehnen wir uns danach, zu lieben und geliebt zu werden!
Und gleichzeitig ist ein Sich-öffnen für die Liebe das gefährlichste, auf das wir uns einlassen können! Was, wenn die Sympathiebekundung der anderen Person uns gegenüber geheuchelt ist? Was, wenn hinter dem Interesse, das die andere Person an uns bekundet, Eigennutz steht, zum Beispiel ein Machtinteresse? Was, wenn die andere Person die Aufmerksamkeit, die sie uns schenkt, nur zu Manipulationszwecken einsetzt, d.h. uns dazu bringen will, dass wir uns öffnen, um uns dann für eigene Zwecke zu benutzen?
Die Gefahr verletzt zu werden ist real! Je nachdem, welche Erfahrungen wir in unserem Leben gemacht haben, wird sie unser Verhalten in Beziehungen mehr oder weniger dominieren.
Entwicklungstrauma ist immer auch Bindungstrauma. Da wir alle, mehr oder weniger ausgeprägt, Bindungstraumata erlebt haben, tragen wir die zutiefst schmerzhafte, kaum aushaltbare Verletzung in uns, in unserer größten Not, in Todesangst oder Vernichtungsangst, alleingelassen worden zu sein. Das ist Trauma! Wie sollen wir es schaffen, ausgestattet mit dieser Erfahrung, die meist früh in der Kindheit stattgefunden hat, uns vertrauensvoll einem anderen Menschen gegenüber zu öffnen? So, wie wir uns als Kind schon einmal unseren Eltern oder anderen Erwachsenen, die für uns wichtig waren, geöffnet haben und zutiefst enttäuscht, geängstigt, verunsichert wurden?
Manche Menschen wählen als Folge solcher Erfahrungen, sich der Gefahr, in Beziehung verletzt zu werden, nie wieder auszusetzen und sich nie wieder schutzlos einem anderen Menschen anzuvertrauen. Sie ziehen sich zurück oder versuchen, über allen sozialen Interaktionen die Kontrolle zu behalten oder verbergen sich hinter einer Rolle, die sie zu spielen gelernt haben. Diese Schutzstrategien sind überlebenswichtig! Sie helfen uns, uns über lange Zeiträume hinweg stabil zu fühlen und unser Leben zu leben. Allerdings bleibt die Sehnsucht danach zu lieben und geliebt zu werden, ungestillt. Sie wird uns antreiben, es doch hin und wieder zu versuchen, uns auf Beziehung einzulassen, neue Erfahrungen zu machen und auszuprobieren, ob die Gefahr, verletzt zu werden und daran zugrunde zu gehen, sich inzwischen verändert hat und jetzt womöglich weniger bedrohlich ist. Zu realisieren, dass wir inzwischen groß und erwachsen geworden sind und mehr Möglichkeiten zur Verfügung haben, uns zu schützen oder zu wehren, wenn wir angegriffen werden, kann hilfreich sein. Diese Erkenntnis kann uns ermutigen, uns mehr und mehr von den gewohnten Schutzstrategien zu lösen.
Meist braucht es viel Traumaheilungsarbeit, um den Mut zu haben, sich auf neue Beziehungserfahrungen einzulassen. Auf dem Weg der Traumaheilung ist das Erlernen liebevoller Selbstbeachtung die zentrale Kompetenz, die wir brauchen, um uns, sollten wir wieder verletzt werden, versorgen zu können. Durch liebevolle Selbstbeachtung erfahren wir, wie es sich anfühlt, wenn da jemand ist, in diesem Falle wir selbst, der oder die für uns da ist, wenn wir Hilfe brauchen. Wenn wir das erfahren, steigen wir aus dem Traumamilieu aus, das davon geprägt war, dass wir mit einer völlig überfordernden Situation hoffnungslos alleingelassen worden waren. Liebevolle Selbstbeachtung ist der Weg in die Freiheit! Das klingt simpel und von der Logik her ist es das auch. In der Praxis ist es allerdings das Schwerste, das uns abverlangt wird, weil wir nicht erlebt haben wie es geht und wie es sich anfühlt, liebevoll beachtet zu werden. Wir müssen es von Grund auf selbst entdecken. Dabei kann eine bejahende therapeutische Begleitung sehr hilfreich sein.
Klar ist, je besser wir uns mit liebevoller Selbstbeachtung auskennen, je verlässlicher wir uns selbst liebevoll beachten, vor allem in den Hinsichten, in denen wir verunsichert sind und uns verneinen, umso stabiler fühlen wir uns, umso sicherer sind wir, umso kraftvoller, lebensfroher und selbstbewusster erleben wir uns.
Das sind gute Voraussetzungen, um uns auf die Gefährlichkeit einer Beziehung einzulassen! Und das hilft uns damit aufzuhören, unerfüllbare Erwartungen an unser Gegenüber zu richten, die es (die andere Person) nur in die Flucht treibt.
Ich lade Dich herzlich ein, liebevolle Selbstbeachtung mehr und mehr in Dein Leben zu integrieren! Auf der ganz alltäglichen Ebene, indem Du dir z.B. leckeres Essen gönnst, das dir gut tut, dir ausreichend Schlaf und Bewegung erlaubst, usw. Und auf einer tieferen, existenzielleren Ebene, indem Du Dich auch der traumabedingten Selbstverneinung, die Du noch in dir trägst mit liebevoller Selbstbeachtung zuwendest. Dabei geht es darum, dass Du Dich für Dich und Deine Not interessierst und Dich auch in den Hinsichten nicht verlässt, in denen Du Dich verneinst!